Wenn Hierarchien, Strategien und Prozesse an ihre Grenzen stoßen, hält die Kultur den Laden zusammen – und resilient. Vorausgesetzt, sie darf florieren. Gerne liebevoll kuratiert und moderiert.

Kultur lässt sich nicht verordnen. Und auch nicht kontrolliert gestalten. Sie wächst. Wie ein Garten gedeiht, der mit einer gewissen Vorstellung angelegt wird, aber dann doch zu vielen Einflüssen ausgesetzt ist, als dass ein Ergebnis exakt planbar wäre. Sie wandelt sich, geradezu organisch, immerfort, neigt zur Trägheit und widersetzt sich ebenso beharrlich ihrer Konservierbarkeit. Was heute in einer Organisation als gemeinsamer Wert gilt, als Überzeugung geteilt oder seit Dekaden als ungeschriebenes Gesetz gelebt wird, findet morgen schon keine Akzeptanz mehr. Oder noch schlimmer: überholt sich und wird zum Klotz am Bein.

Oft genügt ein kleiner Schock, um ein erfolgreiches Unternehmen erschüttert aus der Bahn zu werfen. Und von „klein“ kann, angesichts vieler Umbrüche, längst nicht mehr die Rede sein. Die Zahl transformativer Störungen nimmt seit Jahren zu, in Gesellschaft wie Wirtschaft, von der Digitalisierung über Covid-19 bis zur Klimakrise.

So wird die Ungewissheit zur dominanten Rahmenbedingung, was wiederum längst ein Gemeinplatz ist: Kaum eine einschlägige Diskussion kommt ohne den Verweis auf VUCA – „Volatility“, „Uncertainty“, „Complexity“, „Ambiguity“ – aus, das Akronym zur allgemeinen Verunsicherung. Yes, it’s Pop und ein bei Trend-Konferenzen gerne strapaziertes Businessklischee. Fakt bleibt: Druck auf das Bestehende, wo man hinsieht. Und das drängende Gefühl, sich rüsten zu müssen.

Die Renaissance der Eigendynamik

Retour in den Garten. Hier zeigt sich der Wildwuchs als vitalstes Konzept: Kreativ, resilient, reaktions- und anpassungsfähig. Perfekt für schwierige Verhältnisse. Und doch, in der bisherigen Betrachtung, nahezu ungeeignet für ein zielgerichtetes, effizienz- und effektivitätsgetriebenes Wirtschaften unter Profitabilitätsprämisse. Sich selbst überlassenen, auf den ersten Blick „chaotischen“ Kulturen, gesteht man zwar eine gewisse Produktivität zu, vor allem im Kreativen, als klassisch top-down führbar gelten sie nicht.

Strategische wie operative Planungen haben spätestens seit der Industrialisierung Spielräume in Organisationen durch leicht steuerbare, „geordnete“ Architekturen und Abläufe ersetzt. Um bei der Garten-Analogie zu bleiben: durch Hecken, Rasen, Sträucher, Beete, Zierblumen, bis hin zu gesichtslosen Kieswüsten. (Willkommen im disziplinierten Kampf gegen Witterungen, Schädlinge und Unkräuter!) Und jetzt – nicht aus postdigitaler Romantik, sondern aus VUCA-Notwendigkeit – „zurück zur Natur“? Zurück in agilere Strukturen, die selbstbestimmt Anforderungen flexibler meistern, als es der durchgeplante „Organisationsgarten“ je könnte? – Zweifellos ein vielversprechendes Bild, wenn man Eigendynamiken liebt und Loslassen gelernt hat. Doch dies auch nur zu denken, fällt den Akteur*innen in langjährig gewachsenen Systemen schwer. Zu sehr dominieren in die Mentalitäten gemeißelte Hierarchien, Strategien und Prozesse die Idee einer gewissen Stand- und Wehrhaftigkeit im Wettbewerb, zu schwach ausgeprägt sind Unternehmenskulturen, die Know-How-Trägerinnen auf allen Ebenen aktivieren, motivieren und eigenverantwortlich handeln lassen.

Menschliche Teilsysteme ganz ohne Kultur kennen wir nicht, auch massiv regulierte Betriebe pflegen kollektive Überzeugungen und Handlungsweisen. Nur dass eben geschriebene wie ungeschriebene Vorgaben stets auf Vergangenes verweisen, auf Zahlenwerk, Beschlüsse, Urteile, Formerfordernisse, Traditionen, ersessene Rechte (…) – bisher durchaus taugliche Hilfen, in die Zukunft zu denken. Wenn nun schon morgen alles anders wird als heute – und das Übermorgen nur noch grob erahnbar erscheint: Welchen Vorteil sichern starre Beschränkungen? Häufig wohl nur den, dass es überhaupt einen systemübergreifenden Konsens dazu gibt. („Wir können das schlecht ändern, wir haben Jahre gebraucht, um uns hier zu einigen.“)

Selbstbestimmung blickt nach vorne. Ihre innere Logik schleppt keine Last aus Vorschriften, sondern baut auf ein Wertegerüst als Orientierungshilfe. Dieses inkludiert Erfahrungen und Visionen, schließt jedoch ein gewandtes Anpassen an neue Gegebenheiten nicht aus. Und nimmt dabei – rein organisatorisch – einen zumindest halb verwilderten Garten in Kauf.

Liebevoll kuratiert und moderiert

Wie findet man nun in eine Organisationskultur, die Akteur*innen auf allen Ebenen das Pouvoir einräumt, dank ihrer Expertise unmittelbar zu gestalten, auf Herausforderungen rasch, risiko- und lernbereit zu reagieren? Die als Sprungbrett dient, um die VUCA-Welt als Chance zu begreifen und weniger als Bedrohung des Bestehenden? Und dies einfach, weil sich unter nun veränderten Bedingungen weitaus mehr Mitarbeiter*innen als entscheidungsfähig erleben?

Mit der Reduktion klassischer Bezugsrahmen – strukturierter Aufbau, definierte Abläufe und Ressourcen – entsteht ein Orientierungsvakuum, das es zu füllen gilt. Hier fällt dem Management eine wichtige Aufgabe zu. War bisher die strategische und operative Planung die Kernkompetenz der Chefetage, so wandelt sich diese Rolle bei einem transformationalen Leadership-Verständnis. Manager*innen tragen verstärkt Verantwortung als Kurator*innen der Organisationskultur: als Sinnstifter*innen, Motivator*innen und Werte-Architekt*innen.

Das lateinische Substantiv „curator“ steht für „Pfleger“, „Vertreter“ oder „Vormund“, das Verb „curare“ für „Sorge tragen“, „sich sorgen um“. Praktisch bedeutet das Kuratieren von Unternehmenskultur, ausgewählte Werte vorzuleben, diese in Narrativen verpackt im kollektiven Bewusstsein der Organisation zu verankern – weg von egoistischen und individuellen Zielen in Richtung langfristiger, übergeordneter Ziele. Diese können, ja müssen, weit über den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens hinausgehen, von gesellschaftlicher Bedeutung sein, Stichwort: Purpose.

Wer führt, steht unter ständiger Beobachtung: Mitarbeiter*innen achten präzise, nach welchen Kriterien entschieden, mit Aufmerksamkeit bedacht, belohnt, gefördert, beschützt oder gegengesteuert wird. Um sich mit der Organisation identifizieren zu können, müssen Handlungen nachvollziehbar erscheinen, ihr Kontext erklärt werden. Klarheit statt Kontrolle, Moderation und Mediation statt Befehlsausgabe. Wo erforderlich, gilt es, Stellung zu beziehen, gegebenenfalls zum eigenen Nachteil. Die Balance zwischen den ideellen Ansprüchen, offen gelegten Emotionen und einem – trotz allem – häufig unausweichlichem wirtschaftlichen Pragmatismus zu finden, erweist sich als die wahre Kunst. Da die Autorität nicht auf Überlegenheit baut, sondern eine natürliche bleibt, ist tückisch, was die persönliche Glaubwürdigkeit (und damit die der Organisation) untergräbt.

Die Früchte: Commitment und Resilienz. Wer verinnerlicht, welchen Überzeugungen sich ein Kollektiv verpflichtet fühlt und diese entweder mitbringt oder für sich annimmt, wird intrinsisch motiviert handeln. Und bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Als wertvoller Teil der Gruppe. Das garantiert noch keine retrospektiv richtigen Entscheidung im Sinne des Ganzen, schließt jedoch ein der jeweiligen Situation gegenüber blindes („Dienst nach Vorschrift“) oder weitgehend eigennütziges Vorgehen so gut wie aus.

Der Garten darf florieren. Und ein bisschen verwildern.

Foto: Demmel

Kommentare an: Postdigitales Management im halb verwilderten Garten

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