Geschichten machen die Welt begreifbar und das Erlebte erzählbar. Sie siedeln auf den weißen Flecken, den Freiräumen zwischen den Koordinaten der Alltäglichkeit. – Ein Hinführen auf die STORY DEALING ACADEMY ab November 2022.

Bedeutung & Reichweite

Es gibt Geschichten, die sich wirklich ereignen, und solche aus Tausendundeiner Nacht; Geschichten die man sich erzählt und Geschichten die erlebt werden – reale und fiktive Geschichten. Die in der Literatur erzählten, also rein erfundenen Geschichten sind ohne die anderen, tatsächlich erlebten, nicht zu denken. Doch auch im Horizont des Erlebens ist das Erzählen-Können immer schon vorhanden und vieles wird gerade deshalb erlebt, um erzählt zu werden. Durch die Struktur des Erlebens schimmert also stets auch die des Erzählens. Das ist wie in dem jüdischen Witz, in dem jemand am Sabbat auf dem Golfplatz mit wenigen Schlägen alle Löcher spielt und sich dann fragt: Und wem erzählst du das?!!? Der Wunsch nach Erzählbarkeit wirkt auf die Organisation der Erfahrung zurück und es entsteht die Tendenz, für wirklich zu halten, was erzählbar ist.

Zwischen den Organisationsprinzipien der Erfahrung und denen der Erzählung zeigt sich also eine gewisse Korrespondenz. Es wäre also zu kurz gefasst die Bedeutung von Geschichten allein dem narrativen Bereich zuzuschreiben. Erzählen und Erleben bilden eine unzertrennliche Einheit und es ist keine harmlose Frage, was und wie erzählt wird und welche Geschichten sich auf dem jeweiligen Deutungsmarkt durchzusetzen verstehen.

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Hans Geißlinger, Story Dealer

Hans Geißlinger ist Diplom-Sozialpädagoge und Diplom-Soziologe. Der Erfinder des Story Dealing versteht sich nicht nur auf die Entwicklung und Realisierung von Geschichten, sondern auch auf die Kunst, sein Publikum eine Geschichte lang zu verzaubern.

Story Dealer

Geschichten haben ihren Anteil an der Art und Weise, wie Realität ausgelegt wird und da wir keine andere Wirklichkeit als die von uns ausgelegte besitzen, lässt sich sagen, dass wir uns unsere Wirklichkeit zu einem großen Teil durch Geschichten erschließen, bzw. sie uns durch Geschichten konstituieren. Geschichten stellen eine spezifische Form der Organisation von Erfahrung dar. Die Einschränkung resultiert aus der Tatsache, dass nicht alles, was wir erfahren zugleich auch Teil einer Geschichte ist. Geschichten sind eine mögliche Form kontextueller Typisierung (eine weitere wäre etwa Theorie) und es ist eine Frage des sozialen Feldes, zu welchem Instrumentarium gesellschaftlicher Selbstkonstruktion man greift. Wenn wir aber erfassen wollen, was Liebe, Angst oder Trauer ist, dann erfassen wir es über Geschichten. Geschichten um Hass, Niederlage, Ruhm, Verzweiflung oder Glück – sie sind der Ort, an dem wir menschlichen Gefühlsregungen, den eigenen und denen der anderen, begegnen. Homer, Cervantes, Grimmelshausen, Goethe, Dostojewski, Proust, Kafka, Márquez – Versuche, menschliches Erleben über Geschichten zu vermitteln.

Menschliche Gesellschaften organisieren und vermitteln einen Großteil ihrer Erfahrung in Form von Geschichten. Die Entwicklung jeglicher kollektiven Identität wäre ohne Geschichten nicht denkbar. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese fiktional sind oder nicht. Die Zugehörigkeit zu einer Nation etwa ist ohne Geschichten nicht zu denken, sie kann über Armut, Reichtum, Krieg und Frieden, womöglich über Tod und Leben entscheiden. Aber das ändert nichts daran, dass dieser Bezugsrahmen letztlich aus dem Stoff von Fiktionen gemacht ist und keine empirische Entsprechung hat. Ohne solche fiktiven, durch gemeinsame Geschichten entwickelten, Operationsgrößen in Recht, Politik oder Wirtschaft könnten sich Menschen nicht vergemeinschaften; keine Gesellschaft könnte im Medium des positiven Gegebenen allein existieren.

Auch der Zugang zu den großen Religionen und ihren Göttern ist ohne Geschichten nicht zu finden. In diesem Sinne sind Mythen die zu Geschichten verarbeiteten Schrecken einer unvertrauten Welt. Ihre hochgradige, den narrativen Kern betreffende, Beständigkeit verbindet sich mit einer ebenso ausgeprägten marginalen Variationsfähigkeit. Sie können zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten unendlich viele Modifikationen erfahren, ohne dass sie dabei den Kern ihrer Botschaft verlieren. Beides macht sie traditionsgängig, zu zeitlosen Themen mit endlosen Variationen. Sie suggerieren eine dem Ritual nahekommende Wiederholbarkeit und nähren auf diese Weise das Bedürfnis nach kollektiver Identität. Durch sie haucht der Mensch der Welt sich selbst ein, tauft die Dinge und macht Geschehen zu Tun.

Es gibt Geschichten, die nur sehr wenige Menschen erfassen, und solche, mit denen sich ganze Völker identifizieren. Um zu verhindern, dass eine Geschichtenwirklichkeit im Laufe der Zeit ihre Gültigkeit verliert, der Schwerkraft des Alltags erliegt und zunehmend verblasst, wird sie in ihren wesentlichen Interpretationsmustern ständig aktualisiert. In ritualisierter Form können diese, vom sonntäglich stattfindenden Abendmahl im Rahmen einer christlichen Messe bis zur jährlichen Revolutionsfeier der Franzosen, beliebig oft wiederholt und damit, zumindest symbolisch, auch immer wieder gesellschaftlich erfahrbar gemacht werden.

Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen sind im gleichem Maße an der Aktualisierung einer Geschichtenwirklichkeit interessiert. Dieses Terrain ist für Kämpfe um Realitätsdefinitionen geradezu prädestiniert. Hier zeigt sich die Macht derjenigen, die in der Lage sind, Wirklichkeiten zu verordnen.

Struktur & Erleben

Geschichten siedeln auf den weißen Flecken, den Freiräumen zwischen den Koordinaten der Alltäglichkeit. Sie sind eine Art „alternative Wirklichkeit auf Zeit“, ein Schritt heraus aus der Ordnung der Dinge. Nicht ihr Inhalt erweist sich als Charakteristikum, sondern ihr Verhältnis zum Lebenszusammenhang als Ganzem. Ereignisse, die durch eine Geschichte miteinander verwoben werden, ordnen sich keiner übergeordneten Handlungsrationalität zu. Niemand kann willentlich den Verlauf einer Geschichte steuern. In jedem Falle erklärt die Geschichte einen Prozess, der als Resultat eines Willens und seiner unter kontrollierten Bedingungen vollzogenen Realisierung unverständlich wäre. Wird das, was einem widerfährt, als Eigenes und Bekanntes erfahren, bleibt das Erleben einer Geschichte aus. Zu einer Geschichte wird etwas erst durch die Inkongruenz von Handeln und Umwelt, durch die Erfahrung der Indifferenz zwischen Wollen und Tun. Hier liegt auch ihr dramaturgisches Potential.

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Die Story Dealer beschreiben ihre Projekte als “Überfälle auf die Wirklichkeit”.

Die in eine Geschichte Verstrickten erfahren die Welt als das andere, das noch nicht Angeeignete. Sie sind Flüchtlinge aus dem Land der Gewohnheit und der Gewissheit. Grenzüberschreitend verbinden sie durch ihre Person und ihren Weg verschiedene Wirklichkeiten. Insofern sind Geschichten die Begegnung mit allem Möglichen und allem Vorstellbaren, ein Erleben, das nicht von vornherein gewusst und berechnet werden kann.

Aufmerksamkeit entsteht durch die Erzeugung von Ungewissheit, und sie wird gehalten durch dessen schrittweise Auflösung, das heißt, durch die Möglichkeit, das Fremde auf etwas Bekanntes zurückführen zu können. In der dadurch erzielten Angespanntheit des Lebensgefühls spiegelt sich die spezielle Form des Erlebens von Geschichten. Man erfährt sich als Tänzer auf dem Seil, ohne sicherndes Netz, und damit jeden seiner Schritte als bedeutungsvoll und relevant. Der Handlungstypus des Dramatischen diktiert den Rhythmus und schmiedet den Spannungsbogen aus Erlebnisdichte und -intensität. Das erklärt sowohl die vom dramatischen Geschehen ausgehende Faszination wie auch das Bedürfnis nach seiner Dramatisierung.

Hier setzt der Erlebnishunger der aktuellen Gegenwartskultur an. Der moderne Mensch will etwas sein, und er will etwas erleben, und er sucht nach den Zutaten zur Herstellung dieses Prozesses. Diese findet er aber nicht in der Außenwelt vor, das heißt in der Beschaffenheit von Situationen oder Objekten, sondern einzig und allein in sich selbst, in der eigenen Befindlichkeit. „Was hier aufblitzt“, schreibt der Soziologe Gerhard Schulze, „ist eine Wendung des Denkens von außen nach innen, von der Situation zum Subjekt …“ – Womit wir bei einer psychologischen Gemengelage wären, für die das Terrain der Geschichten geradezu prädestiniert erscheint.

Erlebnisorientierung wird zum habitualisierten Hunger, der immer weiter vordringt: Körper, Psyche, soziale Beziehungen, täglicher Konsum, die Bewegung durch den Raum … – immer mehr Alltagsbereiche werden zunehmend mit Erlebnisansprüchen besetzt. Innenorientierte Lebensauffassungen, die das Subjekt selbst ins Zentrum des Denkens und Handelns stellen, haben außenorientierte Lebensauffassungen verdrängt. Die explosionsartige Zunahme des Nützlichen durch den unendlichen Strom immer neuer Waren, die unsere Märkte fluten, lässt den Gebrauchswert der Dinge blasser erscheinen. Stattdessen wandern Erlebnisansprüche von der Peripherie ins Zentrum der persönlichen Werte. In dem Verhältnis wie es darum geht, an Gefühle heranzukommen, das heißt wie eine psychophysische Semantik an die Stelle der ökonomischen tritt, steigt das Bedürfnis nach Geschichten. Einerseits sind sie das Terrain auf dem Gefühle erzeugt, erfahren und weitervermittelt werden; Geschichten sind der Ort, wo Erleben in intensiver Form stattfindet. Andererseits tragen sie Sinn in die Welt, versehen ihren Lauf mit Absichten und Zielen und versetzen die Menschen in die Lage, sich in ihr praktisch wie auch symbolisch einzurichten. Der Prozess der Moderne dagegen zieht eine Schwächung der kulturellen Vergangenheitsreferenzen nach sich. Mit anderen Worten, moderne Gesellschaften können ihren Lebenssinn nicht mehr aus der Traditionen übernehmen, sondern sind stattdessen gezwungen, ihn in einer alltäglichen, tragfähigen Form immer wieder neu zu erschaffen – durch Geschichten.

Erzählen & Erinnern

Eine Geschichte ist die narrative Zusammenfassung sozialer Prozesse unter einem übergeordneten Bedeutungszusammenhang. Durch sie bringt der Mensch seine subjektive Sicht- und Erlebnisweise zum Ausdruck. Sie ist in letzter Instanz auch das, was man erzählen muss, damit die anderen wissen, wer einer ist, und meist sprechen wir von einer Geschichte erst dann, wenn sie vorbei ist. Die Erzählung einer Geschichte geht also über die Weitergabe von Informationen hinaus. Sie lässt für den Zuhörer eine Welt entstehen, die ihm gewissermaßen die Fortsetzung des Erlebens mit anderen Mitteln erlaubt. Für den Erzähler wiederum eröffnet sie die Möglichkeit, seine Mitmenschen darüber zu unterrichten, wie er das Erlebte sieht, interpretiert und empfindet.

Dabei geht, wie anfangs bereits erwähnt, die Erzählbarkeit der Erfahrung voraus und wirkt auf sie ein. Die Erzählung wiederum transformiert das Erlebte, erfindet es im Reich des Erzählbaren und gibt ihm seine Gestalt. Damit wird das Erlebte begreifbar und – was noch wichtiger ist – kommunizierbar. Ihre Schlüsselrolle liegt im Aufbau und der Formung kultureller Gedächtnisbestände.

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Ein zentrales Element aller Story Dealer-Projekte: Teilhabe.

Erlebnissen wird, indem sie weitererzählt werden, ein Zweitleben geschenkt; ob durch mündliche Überlieferungen, Verschriftlichung oder durch mediale Verbreitung. Ihre Reichweite und Nachhaltigkeit hängt von zwei Dingen ab: dem Inhalt und der Form. Der Inhalt zielt auf die Erzählung selbst, das heißt, was kommt in ihr vor und was nicht; die Form wird durch das Medium seiner Verbreitung bestimmt.

Erzählen ist eine hochgradig selektive Tätigkeit. Es hebt wenige Einzelzüge als signifikant aus einer Masse von Daten heraus. Ein kollektives Erlebnis zieht eine Vielfalt kleiner Erzählungen nach sich, fast so viele, wie es Teilnehmer oder Zeugen davon gibt. Erst durch seine Medialisierung werden die verschiedenen erzählerischen Einzelstränge gebündelt, zusammengeführt und gemeinsam bewertet. Dies heißt, dass derjenige, der dem Erlebnis seine mediale Form verleiht, auch die Definitionsmacht über die Erzählung bekommt – und damit über das Erlebte, konkret: die Art und Weise wie es erinnert wird.

Geschichten sind ein vergängliches Gut. Um sich der Vergänglichkeit zu widersetzen, müssen sie – ihrer Singularität zum Trotz – in andere soziale Zusammenhänge übertragbar sein. Während wissenschaftliches Erklären danach strebt, den Einzelfall unter ein allgemeines Gesetz zu subsumieren, also in seiner Besonderheit zum Verschwinden zu bringen, lebt das Erzählen von der Evidenz des Einzigartigen. Singularität und Übertragbarkeit stehen hier in einer unauflöslichen Grundspannung zueinander. Auch aus Geschichten lassen sich Lehren ziehen und verallgemeinernde Schlüsse ableiten, aber nicht auf dem Weg der Induktion oder Deduktion, sondern über die verschlungenen Pfade der Analogie, der Signifikanz und Symbolträchtigkeit.

Erzählungen sind dem sozialen Wandel unterworfen und zugleich Medium seiner Gestaltung. Sie bringen nicht nur eine Sonderwelt neben der wirklichen Welt hervor, sie wirken auch auf deren gesellschaftliche Praxis ein. Die Tatsache, dass sie selbst ein bestimmtes Element dieser Praxis sind, stiftet die Verbindung zwischen Erzähl- und Kulturtheorie.

Jede Kultur stellt mit ihrem Sinnvorrat an Geschichten einen Deutungsraum zur Verfügung, innerhalb dessen sich das eigene Handeln sinnvoll begründen lässt. Damit sind Geschichten eine Art Vermittlungsinstanz zwischen den individuellen Lebenswelten und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass eine Erweiterung und Veränderung von Erzählmöglichkeiten auch eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten nach sich zieht, also Handlungsräume öffnet, die erst durch den Deutungsraum von Geschichten wirksam werden.

Ob Geschichten dabei auf Taubenfüssen daherkommen oder sich mit Kanonendonner ankündigen, ihre Dramatik liegt in der Radikalität, mit der sie in die kollektiven Gewissheiten und Erwartungshaltungen einbrechen, den Boden alltäglicher Sicherheiten aushöhlen und sich damit sprichwörtlich selbst erzwingen. Man wird nicht dadurch Christ, dass man an die Geschichten der Bibel glaubt oder sie für wahr hält. Viel entscheidender ist es, sich in sie als Geschichten, die einen selbst betreffen, verstrickt zu fühlen. Ob es sich dabei nun um große weltbewegende Geschichten oder kleine persönliche Geschichten handelt: das was sie alle zusammen ausmacht und auszeichnet, ist ihr welterweiternder Charakter. Geschichten ziehen Realitäten nach sich, die es ohne sie nicht gäbe. Wie und warum eine bestimmte Geschichte zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort das Licht der Welt erblickt, sich einer russischen Puppe gleich vom Kleinen ins Große häutet, andere Bühnen zum Einsturz bringt und sich in einem viele Menschen umfassenden Sinne verwirklicht, diese Frage verweist selbst auf eine Geschichte oder besser gesagt auf mehrere; denn Fragen dieser Art sind polygam, sie leben mit vielen Geschichten gemeinsam.

Tipp: Am Donnerstag, 10. November 2022, startet am Zentrum für systemische Forschung und Beratung in Heidelberg die vierteilige STORY DEALING ACADEMY, die von Hans Geißlinger, Stefanos Pavlakis und Hans Rudi Fischer geleitet und gestaltet wird.

Infos und Anmeldung.


Literatur: Hans Geißlinger: Die Imagination der Wirklichkeit, Experimente zum radikalen Konstruktivismus, 1992 | Hans Geißlinger, Stefan Raab: Die Strategische Inszenierung, Story Dealing für Management und Marketing, 2007 | Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung, Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 2012 | Hermann Lübbe: Bewusstsein in Geschichten – Studien zur Phänomenologie der Subjektivität, Freiburg 1972 | Robert Pfaller: Zweite Welten, Und andere Lebenselixiere, 2012 | Johan Huizinga: Homo Ludens, 1938 | Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, 1992.

Fotos: Story Dealer, Berlin/Heidelberg; Konrad Gös (Porträt Geißlinger).

Kommentare an: Soweit Geschichten tragen

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