Das “Beyond Storytelling”-StoryCamp 2021 in Paretz bei Berlin zeigt einmal mehr die Kraft narrativer Ansätze für den Einsatz in Unternehmen und Organisationen.
Am Anfang war das Feuer. Dann erst das Wort. Grob gesagt. Wer weiß das schon genau. Sicher ist jedoch, dass unsere urgeschichtlichen Vorfahren mit der Verzehr von gekochtem Essen den für die Energiezufuhr nötigen Zeitaufwand extrem reduzieren konnten. So nahm (neben der Gehirnmasse) auch die Zeit für anderes zu. Für Sozialkontakte zum Beispiel – und damit verbunden dem Austausch von körperlicher, mitunter akustischer, Zuwendung.
So begann sich die Semantik von Singsang-, Schnurr- und Schmatzlauten zu differenzieren, über viele Jahrtausende hinweg. Es kamen einfache Tratschgeschichten dazu – in Form ein- oder mehrsilbiger Mitteilungen über Befindlichkeit, Rangordnungsfragen und Fehltritten, als Berichte von Jagdglück und Deutungen zu Naturphänomenen. Wir können heute annehmen, dass das Erzählen von Geschichten auf gemeinsame Momente am Lagerfeuer zurückgeht. Die Feuerschale am Eingang zum zweiten “Beyond Storytelling”-StoryCamp im kleinen, abgelegenen Ort Paretz, einige Kilometer westlich von Berlin, erinnert uns daran.
Warum ausgerechnet Paretz? Die Initiatoren des Storycamps suchen jährlich einen ganz besonderen Ort für ihr Gettogether und wurden für 2021 mit der Akademie der Helga Breuninger-Stiftung fündig: Sehr offene Architektur, idyllisch im Grünen. An die Gegebenheiten passt sich auch das Veranstaltungsdesign an. Schon bei der ersten Auseinandersetzung mit dem Programm fällt auf: Es gibt keines. Keine Keynotes, keine fix geplanten Panels, kein Zeitschema. – Noch nicht.
Nach Ankunft erstmal Zeltaufbau. (Einige der Teilnehmer*innen campen am Gelände, andere nächtigen in Privatunterkünften im Umkreis, wieder andere in ihren Vans. Ich habe mich fürs Zelt entschieden.) Wir erfahren mehr zur Hausordnung und zum Ablauf. Methodisch erweist sich das Storycamp als sehr freies, experimentelles Format, ein Mix aus Open Space und Barcamp, bei dem Inhalt und Form einzelner Sessions von den Teilnehmer*innen selbst entwickelt oder erprobt werden. Jede*r kann sein Thema vorstellen. Ich nehme die Gelegenheit beim Schopf und präsentiere in wenigen Sätzen den von mir entwickelten Leitnarrativ-Workshop in einer Lightversion. Das Format passt perfekt zu einer der sechs zur Auswahl stehenden “Locations”: “Into the wild.”
Story-Walkabout zu den Erdlöchern
Entstanden aus mit Wasser vollgelaufenen Tongruben, präsentieren sich die Paretzer Erdlöcher heute als Vogelparadies. Manche der Tongruben waren nach 1945 auch mit Schutt aus dem bombardierten Berlin gefüllt worden. Ein Ort mit Geschichte also. Hierhin führe ich meine Gruppe zum “Leitnarrativ-Walkabout”.
Walkabouts im engeren Sinn sind Inititationsrituale für junge Aborigines, die ein erstes Mal den Weg ihres eigenen Traumpfads gehen sollen. (Traumpfade oder “Songlines” sind für die Ureinwohner*innen Australiens eine unsichtbare, mythische Landkarte, die auch gesungen werden kann.) Wir leihen uns davon nur den Titel und begeben uns – zunächst schweigend – auf eine Route, die mir meine Wander-App vorschlägt. Jede und jeder in der Gruppe startet mit einer Frage zu seinem/ihrem Leitnarrativ. Unterwegs wird notiert oder fotografiert, was ins Auge sticht oder in den Sinn kommt. Die Herausforderung dabei: Die gestellte Frage vorerst vergessen und offen sein für die Sinneseindrücke von außen …
Das Verknüpfen mit der Fragestellung muss jedoch bis zur Rückkehr ins Camp warten. Dann erst werden die notierten und fotografierten Begebenheiten mit der Frage zum Leitnarrativ in Zusammenhang gesetzt, um aus dem entstehenden Bild eine individuelle “Songline” abzuleiten. Das Auf-Distanz-gehen zum Problem und freies Assoziieren zünden inspirierende Impulse und neue Sichtweisen.
“Bisoziation” nennt die Fachsprache der Kreativitätstechniken die Herangehensweise. Der Unterschied zur Assoziation: Während diese in der Regel im selben Denkrahmen “fischt” und damit eine gewisse Linearität nach sich zieht, erzwingt die Bisoziation Brücken und Analogien zwischen zwei völlig unterschiedlichen Bezugsrahmen. Das Spektrum wird größer und bunter.
StorySlam beim Glasperlenspiel
Das Camp ist Ort zahlreicher inspirierender Begegnungen. Es zieht Story-Worker*innen aus unterschiedlichsten Bereichen an. Ich lerne Organisationsentwickler*innen, Psycholog*innen, Coaches, Managementberater*innen und Autor*innen kennen. Aber auch der Hausmeister des Anwesens wird in eine Session mitgenommen. Das Format, das ihn involviert, nennt sich “Glasperlenspiel”. (Wie jener monströse Roman von Hermann Hesse, den kaum jemand den ich kenne fertig gelesen hat und wenn, dann sich nicht mehr wirklich erinnern kann, um was es auf den hunderten Seiten defacto ging; bestenfalls an die persönliche Befindlichkeit beim Lesen in jungen Jahren.)
Doch auch hier: Das “Glasperlenspiel” des StoryCamps zeigt – zum Glück – wenig Parallelen mit dem gleichnamigen Werk. Dafür sichert es sich einen Fixplatz in meinem Gedächtnis, weil es in seiner Form ein besonderes Erlebnis darstellt. Die Spielregeln sind simpel: Es wird zu einem zuvor festgelegten Thema einzeln und der Reihe nach (je) eine Minute frei assoziiert. Das kann rhythmisch sein, in einer Art Poetry-Slam-Duktus, muss aber keinesfalls. Zuvor Gehörtes darf an Bord, doch auch hier gilt: Nicht zwingend. Nach spätestens fünf Runden ist Schluss. Das Spannende: Ohne Widerrede und Unterbrechungen öffnen sich neue verbale, assoziative und emotionale Räume. “Das Glasperlenspiel” ermöglicht ein untereinander Kennenlernen der Teilnehmer*innen in nur wenigen Augenblicken, in einer Tiefe, die mich überrascht.
Systematisierung, Abstrahierung und Analyse durch Storylistening
Einen der interessantesten Workshops bot das belgische Unternehmen Voices That Count an, vertreten durch Steff Deprez und Nele Claeys. Sie setzen auf narrative Methoden, um komplexe Realitäten in Organisationen und Projekten zu verstehen und Teamwork wie Unternehmenskultur zu stimulieren. Ihr Methodensetting: “Storylistening” unter Einsatz des Analysetools “SenseMaker”, das – vereinfacht gesagt – Muster sichtbar macht.
Im ersten Schritt erzählen wir uns paarweise kurze Geschichten zu einer Frage aus der Arbeitswelt, etwa “Wo hat Corona etwas Wesentliches am Arbeitsplatz verändert?”. Danach tragen wir die Nummern, die uns zugeteilt wurden, auf einem Plakat ein, wo mehrere Emotionen zur Auswahl stehen (glücklich, stolz, hoffnungsfroh, frustriert, zornig, traurig, ängstlich, dankbar). Wir notieren zudem die Auswirkungen der Geschichten auf Fragen zum Inhalt, zur Organisationen und zur Zusammenarbeit im Unternehmen. Und in der dritten Runde bestimmt jede*r den Einflussgrad der Geschichte auf die unmittelbare Tätigkeit. Die Verteilung der (anonymen) Nummern auf den Charts zeigen Tendenzen und Verdichtungen.
Ich finde diesen Ansatz so spannend, dass ich von Voices That Count mehr wissen möchte und sie zum Interview einlade:
Was ist für euch der Unterschied zwischen Storytelling und Storylistening?
“Der ist nicht so klar und wir mögen auch keine Labels. Aber im Allgemeinen sehen wir Storylistening als Verbindung zweier Welten: Die Welt des Menschen, der seine Geschichte teilt, mit jener des Menschen, der zuhört. Beim klassischen Erzählen von Geschichten geht es mehr darum, der Welt die eigene Realität hinzuzufügen. Aber natürlich kann Storylistening zu Storytelling werden und umgekehrt.”
Wie würdet ihr eure Methode beschreiben?
“Wir nennen es ‘Large-scale Listening’ oder ‘Hören für das große Ganze’. Es basiert auf der SenseMaker-Philosophie und -Methode. Im Wesentlichen gehen wir von individuellen Erfahrungen aus, die Beteiligte in einer zweiten Phase selbst interpretieren. Die Antworten können als Muster visualisiert und quantitativ analysiert werden. Hier ist ‘kollektives Sensemaking’ der Schlüssel. Wir laden Stakeholder ein, Geschichten zu erzählen, die letztlich eine gemeinsame Sinnstiftung ermöglichen.”
Wie läuft das Geschichtenerzählen ab? Laut und stets mit Paaren?
“Wir versuchen, ausreichend Zeit für den Austausch zu zweit oder in Kleingruppen einzuplanen. Wenn Teilnehmer*innen ihre Story laut erzählen, ist es einfacher, die Geschichten im Kopf zu konstruieren. Die Fragen, die man vom Vis-a-vis bekommt, helfen, Details hinzuzufügen und neuen Spuren nachzugehen. Bei großen Organisationen achten wir darauf, Menschen zusammenzubringen, die selten miteinander sprechen. Es dreht sich alles um die Beziehungen, die im Moment des Erzählens entstehen. Aber es muss nicht zwingend paarweise passieren, Dreier- oder Vierergruppen sind genauso denkbar.”
Was nehmt ihr aus dem Storycamp mit nach Hause?
“Sicher die große Vielfalt an Methoden, mit denen Menschen eingeladen werden können, ihre Geschichten zu teilen. Aber auch die enorme Bandbreite zwischen der Instrumentalisierung von Storytelling und dem selbstermächtigenden Aspekten von Geschichten. Auf unsere eigene Arbeit bezogen, würden wir gerne innovative Wege in der narrativen Analyse erkunden – mit Blick auf ‘Embodied Sensemaking’, mit Einbeziehen von Kunst und Technologie. Letzteres jedoch, ohne dabei den Fokus auf den Wert menschlicher Beziehungen zu verlieren.”
Prozesse mit und ohne Feuer
In Summe sind es zahlreiche innovative und kreative Formate des Storytellings (und -listenings) für den Einsatz in Unternehmen und Organisationen, die im Zuge des Camps vorgestellt werden. Seit den 1990er Jahren wächst die Zahl der Ansätze laufend. Viele der narrativen Methoden erweisen sich heute als erprobt und ausgefeilt. Dennoch bringt der Einsatz in der Praxis auch Tücken mit sich. Mancherorts werden etwa Storylistening-Formate als alternative Formen der Mitarbeiter*innen-Befragung verstanden und führen so zu Verzerrungen, in dem etwa Geschichten in einer Weise erzählt werden, wie sie mutmaßlich sozial erwünscht sind: “Was wollen die jetzt von mir hören?” Andernorts gelten narrative Ansätze zwar als chic, weil zeitgemäß, die echte Überzeugung des C-Level-Managements, was ihre Wirksamkeit betrifft, fehlt jedoch. Und ohne “Feuer und Flamme” zu sein, wird aus dem Prozess eine seelenlose Angelegenheit mit flachem Outcome.
Letztlich hilft es auch wenig, in einem kurzweiligen Prozess ein für alle gültiges Narrativ extrahiert zu haben, das später zur Seite gelegt wird. Storys wollen täglich mit Leben erfüllt werden, um ihre Kraft zu entwickeln. Bestätigt durch Handlungen und Rituale, die stets aufs neue Geschichten, die ins Ganze einzahlen, zeugen und gebären: “Story in Progress” also …
Das Gute: Unternehmenskultur in Form gemeinsamer Werte, Normen, Symbole und eben Geschichten, die diese verständlich machen, kann wie eine Glut neu angefacht werden. Das geht. Und das dann lodernde Feuer hat auch nichts von seiner Faszination verloren.
Fotos 2, 3 und 5: Gerald Harringer
Fotos 1 und 4: Yoav Goldwein
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