Gierige Organisationen? – Im folgenden Text begegnen Sie einem weithin beliebten Möbelhaus, das sechsstellige Beträge in die Bespitzelung seiner Belegschaft investierte, einem marktführenden Bankhaus, das seine Berufseinsteiger auch 2021 durch den Fleischwolf dreht, einem legendären Investmentbanker, der sowas wahrscheinlich immer noch völlig in Ordnung findet – und einem klugen Soziologen, der den Mechanismus dahinter beschrieben hat.
Das zweite Jahr der Pandemie schreitet voran und selbst ausgewachsene Skandale haben es in diesen Zeiten schwer, ein interessiertes Publikum zu finden. Zwei Nachrichten unter vielen, die man in den letzten Wochen vielleicht übersehen hat, während man wie gebannt auf Infektionszahlen und Impfstatistiken starrte.
In Versailles steht Ikea vor Gericht. Dem unmöglichen Möbelkonzern aus Schweden wird vorgeworfen, in seiner französischen Niederlassung jahrelang Mitarbeitende und Kunden ausspioniert zu haben. Ein Urteil ist mit 15. Juni zu erwarten.
Eine halbe Million für “Nachforschungen”
Der frühere Risikomanager bei Ikea Frankreich, Jean-François Paris, gab in vorbereitenden Hearings an, dass das Unternehmen jahrelang 530.000 bis 630.000 Euro per anno für illegale Nachforschungen budgetiert hatte. Er teilt die Anklagebank mit zwei Ex-Vorstandsvorsitzenden, einem ehemaligen Finanzvorstand, Filial-Managern und vier früheren Polizisten, die vertrauliche Informationen über Mitarbeitende und Bewerber*innen weitergegeben haben sollen. Auch Kunden haben Ikea Frankreich vorgeworfen, unangemessen auf ihre persönlichen Daten zugegriffen zu haben.
Beinahe zeitgleich warf die US-Ausgabe des “Guardian” einen Blick auf alarmierende Ergebnisse einer Umfrage des Bankriesen Goldman Sachs unter seinen Junior-Analysten im ersten Berufsjahr. Eine im März auf Twitter kursierende bankinterne 11-Folien-Präsentation zitierte Klagen über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, Schlafentzug, 100 Stunden-Arbeitswochen und eine von Beschimpfungen durch Vorgesetzte geprägte Kommunikationskultur.
Tote Superpraktikanten
Der Guardian merkt in diesem Zusammenhang an, dass sich Goldman Sachs mit einer Reform der Arbeitskultur erstaunlich viel Zeit lässt. Das Unternehmen hatte eigentlich Besserung gelobt, nachdem 2013 ein 21-jähriger Praktikant nach 72 Stunden ununterbrochener Arbeit tot unter der Dusche zusammengebrochen und 2015 ein 22jähriger Junioranalyst in den Freitod geflohen war.
Wir unterbrechen jetzt die Horrorshow für einen kurzen Blick zurück in die Flegeljahre des Turbokapitalismus: Im May 1986 hielt der Investmentbanker Ivan Boesky einen Vortrag vor Wirtschaftsstudenten an der Uni in Berkeley, Kalifornien. Der Text tauchte dann praktisch wortgleich im Film “Wallstreet” mit Michael Douglas auf: “Greed is all right, by the way. I want you to know that. I think greed is healthy. You can be greedy and still feel good about yourself.” – Das stimmt bestenfalls bedingt, denn keine 20 Monate später trat Boesky eine mehrjährige Gefängnisstrafe wegen Insiderhandel an. Seinen Komplizen Michael Milken hat übrigens Donald Trump zu Ende seiner Amtszeit mit einer Begnadigung gewürdigt.
„Greed is good!“
An diesem Punkt begreifen wir die Aktualität des 1974 in den USA erschienen und erst vor ein paar Jahren von der Berliner Soziologin Marianne Egger de Campo für Suhrkamp ins Deutsche übertragenen Klassikers „Greedy Institutions“ aus der Feder des 2003 verstorbenen Lewis Alfred Coser.
„Gierige Institutionen: Soziologische Studien über totales Engagement”, so der deutsche Titel, nimmt Institutionen unter die Lupe, die allumfassende Ansprüche an ihre Mitglieder stellen und ausschließliche, ungeteilt auf sie gerichtete Loyalität fordern. Coser stellte die entsprechenden Strategien am Beispiel von Mönchsorden, Jesuiten und Leninisten, Hausfrauen und Müttern dar. Egger de Campo verweist darauf, dass sein Ansatz fast ein halbes Jahrhundert später mühelos und mit hohem Erkenntnisgewinn auf soziale Netzwerke und eine breite Palette moderner Berufsbilder anwendbar ist, von der 24-Stunden-Pflegkraft bis zum Management-Berater.
Management per Entgrenzung?
Der Soziologe und Unternehmensberater Stefan Kühl bezog sich ausdrücklich auf Coser, als er in einem Interview mit der Zeitschrift “brand eins” anmerkte, dass die saubere Unterscheidung zwischen der Rolle als Organisationsmitglied und der Rolle als Privatperson eine wichtige Schutzfunktion für Mitarbeiter hat und dass eine Vermischung beruflicher und privater Ebenen nicht legitim ist. Gierige Organisationen, so Kühl, sind darauf ausgerichtet, Personen mit all ihrer Emotionalität und sämtlichen sozialen Bezügen aufzunehmen.
Einen solchen Zugang pflegen zunehmend nicht nur Start-ups und Unternehmen der Kreativwirtschaft: Emotion als Ressource kommt als Management-Konzept in Mode, wie Kühl im Interview anmerkt: „Da wird stark mit Ich-Botschaften, persönlicher Betroffenheit und etwas Esoterik gearbeitet. Man kann deutlich beobachten, dass sich diese Vermischung von Sachargument und Gefühl, die man aus kirchlichen und pädagogischen Milieus kennt, in Universitäten und auch in der Wirtschaft ausbreitet.“
Stichwort: hyperinkludiert
Keine Interaktion ist eine Einbahnstraße. Gierige Organisationen wären ohne die Beteiligung entsprechend entgrenzungsbereiter Persönlichkeiten zum Scheitern verurteilt. Wenn Menschen sich in solche Systeme einordnen, spricht die Wissenschaft von Hyperinklusion – der Einbindung in eine Institution, bei der die gesamte Lebensführung einer Person, zeitlich, sozial, ökonomisch und körperlich auf diese Institution, etwa das Unternehmen, ausgerichtet ist.
Hyperinklusion, so merken die Lehrbücher an, erfolgt grundsätzlich freiwillig. Es gibt jedoch Bereiche – etwa Führungspositionen oder Karrierepfade in Unternehmen mit gieriger Kultur – die Hyperinklusion als informelle Zugangsbedingung setzen. Wer sich hyperinkludiert, bleibt und steigt auf. Wer nicht, der nicht.
Man ist hyperinkludiert, wenn es kaum mehr Nischen im Leben gibt, die nicht im Organisationskontext stehen und wenn dieser zunehmend die einzige Quelle für Anerkennung und Identität darstellt und bei Verlust der Position der Verlust des Lebensinhalts droht.
Bhagwan, Goldman und McKinsey
Stefan Kühl merkt dazu an, dass die Bhagwan-Sekte eigentlich die ideale New-Work-Organisation war: „Da ist es hervorragend gelungen, bei einem hohen Maß an Freiwilligkeit und Identifikation mit der Organisation den ganzen Menschen mit aller Emotionalität zu integrieren. Sie war das Musterbeispiel einer gierigen Organisation. Und das bei einer hohen Effizienz, wenn die Mitglieder weit über die gesetzlichen Arbeitszeiten hinaus gearbeitet und dafür auch noch Geld gezahlt haben. Die Entgrenzung zwischen Person und Organisation war Programm. Das ist nicht weit entfernt von dem, was sich heute einige New-Work-Organisationen vorstellen.“
Ist doch gut, oder? Würde zumindest Ivan Boesky sagen.
Lewis A. Coser
Gierige Institutionen
Soziologische Studien über totales Engagement. Aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Marianne Egger de Campo.
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Fotos:
Key Visual: Unsplash | Hunters Race
Buch-Cover: Suhrkamp
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