Was brauchen Menschen wirklich, um sich zu entfalten? Mehr Gerede von Karriere, Leistung und Zielen? Wohl kaum.
Segelschiffe werden durch zwei Effekte vorangetrieben: durch Winddruck auf das Segel und durch Luftströmung um das Segel, die durch Unterdruck am Segel zieht. Je nach Kurs zum Wind überwiegt der eine oder der andere Teil. Wer aber meint, dass man immer nur „möglichst hart am Wind“ bleiben muss, um zu gewinnen, hat die Komplexität einer dynamischen Fortbewegung nicht verstanden und überfordert sich, seine Crew und auch das Schiff.
Wer den Unterdruck der Leeseite nicht nützt, bringt sich (und andere) um eine starke Antriebskomponente. Das ständige Dichtholen und Optimieren mag vielleicht das Gewissen eines ehrgeizigen Skippers beruhigen und seine Machermentalität stärken, nachhaltig wirksam ist es aber nicht.
Im Spielraum der Kräfte liegt das Geheimnis ihrer Wirksamkeit
In der (meist falsch verstandenen) Lean-Welle der letzten Jahre haben sich viele Unternehmen so schlank gemacht und Mitarbeiter „freigesetzt“ (welch ein Euphemismus!), dass sie jetzt an Mitarbeiter-Bulimie leiden und neue Arbeitskräfte (mit eigenem Denken) und Ideen weder halten noch verdauen können. Also suchen sie Zuflucht in einem Employer Branding, an dessen Markengerüsten sie sich selbst wieder aufrichten können. Aber nach wie vor fehlt eines: Der Spielraum für Erneuerung, Kreativität und Entwicklung. Es gibt keine Leeseite und auch keine Spur von Opulenz, die die Kräfte für Neues speisen könnte. Dafür sorgt schon das Controlling.
Harald Jeschke ist Kommunikationsberater und Autor. Seine Beratungsschwerpunkte sind der Aufbau, das Ausrichten und die Festigung der inneren Beziehungen von Organisationen und die Verständlichkeit von Botschaften und Zusammenhänge. Er hat Büros in Oberösterreich und Tirol.
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Oder Big Data: Immer noch mehr Daten sammeln und optimieren bis der Arzt kommt. Und dann? Noch mehr Daten sammeln, um alles noch besser zu optimieren in der Hoffnung, dass aus Daten irgendwann doch noch Informationen werden, die wirklich relevant sind.
Wo keine Spielräume vorgesehen sind, tummeln sich auch keine Geisteskinder
Mit Schmunzeln erinnere ich mich an die Anfänge der Brainstorming-Ära. Das war ja wirklich mal ein Ding! Da hat sich der Chef mit Flipchart und Filzstiften bewaffnet und forsch verkündet: „Jeder sagt, was ihm einfällt.“ Und wenn das dann jemand leichtsinnigerweise getan hat, gingen seine Augenbrauen hoch, er hat den Gedanken sichtlich widerwillig notiert und angemerkt, dass man doch beim Thema bleiben solle. Kein Scherz, so war es wirklich. Der Chef musste doch den Hühnerhof seiner Kompetenz verteidigen und irgendwie seine Kreativhoheit markieren. Spielball für den Chef. Jetzt versucht man, mit Disruptive Thinking auch gleich die Wurzeln des Denkens auszureißen und entdeckt – welche Überraschung (!) – dass man dafür (unternehmens-)kulturell weder vorbereitet noch eingerichtet ist.
Wer über Jahre alle Spielräume asphaltiert hat, darf sich nicht wundern, wenn da niemand graben will
“Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.”
Schillers Wort aus seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen” (1795) ist berühmt.
Aber das alles beginnt schon viel früher: Möglichen Lehrlingen wird allerhand Motivierendes über den Spaßfaktor vorgeflunkert, der hinter jeder Ecke des Betriebes nur darauf warte, entdeckt zu werden. Aber die frustrierende Realität sieht anders aus: Plötzlich ist nur noch von Karriere, Leistung und Zielen die Rede, mit denen man es viel weiter bringen könne als „nur“ zum Facharbeiter. Kein Spielraum fürs Heimisch-Werden der jungen Leute in ihrer künftigen Rolle. Und spielen, probieren, Fehler machen und neu beginnen? Fehlanzeige. Dabei weiß man doch genau, dass sich junge Leute vor allem eines wünschen: Menschen, mit denen sie reden können und die sie auf die Spielwiesen von Erfahrung, Erprobung und Entfaltung ihrer Interessen führen.
Ist es denn wirklich so schwer, vom Menschenbild des homo faber der industriellen Vergangenheit zu einem Menschenbild des homo ludens der Gegenwart zu kommen, der’s spielend bringt, weil er es spielerisch darf?
Daran wird sich unsere Zukunft entscheiden.
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Foto: Unsplash | Ross Tinney
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