Kurzarbeit und Homeoffice schenkten vielen Zeit zum In-sich-gehen. Das Resultat: Der Status Quo wird in Frage gestellt. Mitunter eine böse Überraschung für HR-Abteilungen.
Eigentlich sollte man ja meinen, dass während Wirtschaftskrisen und Massenfreistellungen sichere Arbeitsplätze besonders geschätzt würden. Als es im Frühjahr und Sommer 2020 coronabedingt zur gesellschaftlichen Vollbremsung kam, sah es zunächst auch genau so aus: Viele Unternehmen versuchten ihre Mitarbeiter*innen in die Kurzarbeitsmodelle zu retten, um sie nach durchtauchter Krise reaktivieren zu können. Allein in Deutschland und Österreich kamen zum Höhepunkt im Mai 8,6 Millionen Arbeiter*innen und Angestellte unter den staatliche geförderten Rettungsschirm.
Spannend ist, was dann passierte. „Gerade nach dem Sommer wechselten viele unserer Ansprechpartner*innen in einen anderen Job und zwar nicht wegen einer Aufstiegschance, sondern ganz im Gegenteil“, schreibt mir Susanne Thral, Geschäftsführerin der Linzer Digitalagentur Team Sisu: „Sie erkennen den Wert ihrer Lebenszeit und machen lieber etwas weniger Glamouröses, dafür in einer schönen Umgebung mit netten Kollegen. Und vielleicht sogar etwas Soziales, Sinnstiftendes, statt mit dem cholerischen Chef weiterzuarbeiten.“ – Eine Beobachtung, die Susanne mit anderen teilt. Völlig unabhängig voneinander schilderten mir in den letzten Tagen gleich vier Menschen mit einer gewissen Sensibilität für das Thema mehr oder weniger das Gleiche.
Ermutigung zur Selbstverwirklichung?
Schon ein früherer Beitrag war der Frage gewidmet, wie Covid-19 die Unternehmenskultur bleibend verändern könnte. So will sich zukünftig wohl kaum jemand mehr die Entscheidung abnehmen lassen, flexibel und eigenverantwortlich im Büro oder Homeoffice zu arbeiten. Doch geht der angestoßene Wandel, wie es scheint, noch gutes Stück weiter. Nicht nur etablierte Strukturen, Praktiken und Narrative in den Betrieben kommen unter Druck, sondern ganze Aufgabenfelder stürzen in eine Sinnkrise. Berufe, die bislang durchaus prestigeträchtig und gut dotiert waren; in Marketing und Verkauf, in der Verwaltung und Logistik, im Management.
Viele dieser White Collar Jobs dürfte eine gemeinsame Schwäche einen: Sie produzieren vor allem wirtschaftlichen Mehrwert; Effizienzsteigerung, Wettbewerbsvorteile, Market Share, Sicherheit, Reputation … am Ende des Tages Gewinn. Von der unmittelbaren Herstellung von Gütern und Dienstleistungen, vom Design, Ingenieurwesen und Handwerk – und damit vom praktischen Nutzen – bleiben sie meist ein Stück distanziert. Und eine für sie selbst spürbare gesellschaftliche Wirkung, jenseits von Steuerleistung und Arbeitsplätzen, entfalten ebenfalls nur manche Unternehmen. Die Corona-Monate haben uns eine Lehre in punkto Systemrelevanz erteilt. Eine Konsequenz, die zunächst paradox klingen mag: Selbstbezogenheit fühlt sich in Krisenzeiten falscher an, als in guten. Und damit der reine – „nackte“ – wirtschaftliche Erfolg.
“Sie erkennen den Wert ihrer Lebenszeit und machen lieber etwas weniger Glamouröses, dafür in einer schönen Umgebung mit netten Kollegen.”
Susanne Thral, Team Sisu
Viele, die nun zwischen Homeschooling, Kochen und Gartenarbeit Zeit hatten, ihre berufliche Ist-Situation zu analysieren, kamen zu einem „Was will ich eigentlich tun?“ oder „Wie soll Wirtschaft eigentlich funktionieren?“. Nun dürfen wir gespannt sein, wie sich die daraus resultierende, ganz persönliche Aufbruchstimmung bemerkbar macht. Steht eine Aufwertung von Gesundheits-, Sozial- und Kulturberufen an? Mehr Top-Ausgebildete, die ins Handwerk und eine Down-to-Earth-Produktion wechseln, raus aus Hightech- und Spekulations-Blasen? Kommt eine Gründungswelle? Oder gewinnen schlicht ehrenamtliche Engagements, die mittels Teilzeitbeschäftigung quersubventioniert werden?
Wie auch immer. Die HR-Abteilungen, die eben noch bemüht waren, vor allem Schlüsselarbeitskräfte zu halten, stehen vor einem Dilemma: Gerade die Besten sind auch jene, die in der Krise den Mut aufbringen, sich zu verändern.
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Foto: Unsplash | Markus Spiske
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