Rainer Peraus, unverbesserlicher Utopist, Zukunftsrevoluzzer und erfahrener Berater für Wandel, versteht Transformation als neue Erzählung der Wirklichkeit. Wie diese gelingen kann, darüber spricht er im Interview.
Du rätst Organisationen, die vor großen Veränderungen stehen, das bislang Undenkbare denken zu lernen. Warum braucht es das Ihrer Meinung nach?
RP: Bei einem echten Wandel geht es nicht darum, etwas zu reparieren oder zu optimieren. Dort, wo sich ein gewisses Modell, eine gewisse Denke dem Ende nähert, einem quasi epochalen Ende, wird viel zu oft versucht, krampfhaft die bisherige Vorstellung von Wirklichkeit aufrecht zu erhalten und an tradierten Ersatzlösungen zu basteln. Transformation ist nicht nur weit mehr, sondern etwas fundamental anderes, nämlich eine narrative Revolution, eine neue Erzählung der Wirklichkeit.
Wie kann man sich diese Revolution vorstellen?
RP: Man kommt schlicht und einfach zu dem Punkt, an dem man sich neu begreift, alles in eine neue Bedeutung hebt, sich selbst neu versteht. Das gilt für Organisationen genauso wie für die Gesellschaft als Ganzes. Eine meist implizite Erzählung, der wir seit Jahrzehnten oder noch länger folgen, ist die Geschichte vom grenzenlosen Wachstum, doch die ist brüchig geworden und funktioniert immer weniger. Jetzt geht es darum, diese Geschichte neu zu denken: Wer wollen wir sein als Menschen auf diesem Planeten, wie wollen wir leben? Auf der Ebene der Organisationen sind die Fragen eher: Was ist unser eigentlicher Purpose? Was wollen wir Sinnvolles tun für die Welt, für unsere Kunden? In jedem Fall ist das der Beginn einer neuen Erzählung.
„Im Prinzip geht es darum, das an den bisherigen Problemen orientierte Denken rauszunehmen, neue Sinnzusammenhänge auszuprobieren und lustvoll an neuen Utopien zu spinnen.“
Das sind sehr grundsätzliche Fragen, darauf Antworten zu finden ist nicht einfach …
RP: Das mag sein. Das Erste, was es dazu braucht, ist, dass man ein Ende zulassen kann. Dann ist man frei für Neues. Das ist schwierig, denn der Sprung ins Neue ist vorerst einmal ein Sprung ins Leere, aber genau den braucht es, um das Undenkbare denken zu können und das Unmögliche möglich zu machen. Solange wir mit dem alten Denken herangehen, kann keine echte Transformation, keine neue Erzählung beginnen. Aber ja, das ist nicht einfach. Menschen haben erst einmal Angst vor dem Ende, vor dem Neuen, das liegt in unserer Natur. Dazu kommt: Bei jeder Transformation gibt es die, die möglicherweise ihre Privilegien verlieren.
Hast du hierfür Beispiele?
RP: Am Übergang vom Mittelalter zur Aufklärung war dies etwa die Kirche, die die Veränderung massiv bekämpft hat. Genauso ist es heute, wenn wir durch den notwendigen ökologischen Umbau der Wirtschaft oder Forderungen nach dem Ende des unsichtbaren Imperialismus, den wir in Form unfairer globaler Lieferketten betreiben, unsere liebgewonnenen aber unerklärlichen Vorrechte auf Wohlstand bedroht sehen. Eine grundlegende Transformation ist somit auch ein Akt der Aggression gegen die Privilegierten, der braucht Mut – auch von eben diesen. Ohne Mut, den Sprung ins Leere zuzulassen, das Vakuum zu wagen, kann es keine wirklich neue Erzählung geben.
Das bedeutet also, dass beim Sprung ins Leere die neue Erzählung noch nicht greifbar ist. Lässt sich diese nicht vorher entwickeln, damit man weiß, wohin man springt?
RP: Nicht wirklich. Damit ein Transformationsprozess gut läuft, braucht es anfangs diese Leere, diesen Orientierungsverlust, der muss sein, denn der macht den Weg erst frei für die neue Erzählung. Deshalb setze ich in meiner Arbeit für Organisationen im Wandel anfangs auf das Verlernen und Defokussieren. Unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit entstammt ja unserer Erzählung von gestern, für wirkliche Veränderung braucht es aber eine neue Wahrnehmung und die lässt sich eher mit emotionaleren, spielerischen Zugängen wecken.
Wie kann dies gelingen?
RP: Im Prinzip geht es darum, das an den bisherigen Problemen orientierte Denken rauszunehmen, neue Sinnzusammenhänge auszuprobieren, lustvoll an neuen Utopien zu spinnen und auch zuzulassen, dass man diese anfangs gar nicht ganz verstehen kann. Das Verstehen kommt erst später, nach dem Orientierungsverlust, wenn aus den Utopien eine neue Erzählung wird und damit eine neue Identität. Die Arbeit von Führungskräften und anderen Gestalter:innen des Wandels bedeutet daher, dem beängstigenden Kontrollverlust eine emotionale und sinnstiftende Sicherheit jenseits der alten Handgriffe anzubieten. Gelingt das, dann sind Menschen bereit, ins Neue aufzubrechen. Denn das ist es, was wir Menschen seit Anbeginn der Zeit sind, was uns ausmacht, uns unterscheidet: Wir sind zuversichtlich und in Wahrheit neugierig auf das, was hinter dem Horizont auf uns wartet.
Für das 24butterfly Festival gestaltet er den Auftakt mit einer „Einladung zur zügellosen Reise ins Undenkbare“ und auch den Schlussakt mit einem „Spaziergang auf Utopia“.
Rainer Peraus ist Betriebswirt, Unternehmensberater, Vortragsredner, Autor und Gründer der YOUTOPIA GROUP. Seit mehr als 20 Jahren begleitet er Organisationen aus allen Branchen auf ihrem Weg zu Transformation und Neuerfindung.
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